Streit der Lebenshauche

Es geschah einmal, daß die Lebenshauche um den Vorrang miteinander stritten
und sprachen: „Ich habe den Vorrang; nein, ich habe den Vorrang.“

Da gingen diese Lebenshauche hin zum Vater Prajâpati und sprachen:
„Ehrwürdiger, wer hat unter uns den Vorrang?“

Und er sprach zu ihnen:
„Derjenige unter euch, nach dessen Auszuge sich der Leib am allerübelsten befindet, der hat unter euch den Vorrang.“

Da zog die Rede aus, weilte ein Jahr lang in der Fremde, kehrte zurück und sprach: „Wie habt ihr ohne mich leben können?“

„So wie die Stummen“, sprachen sie, „die nicht reden und doch mit dem Odem atmen, mit dem Auge sehen, mit dem Ohre hören, mit dem Geist denken.“

Da fuhr die Rede wieder hinein.

Da zog das Auge aus, weilte ein Jahr lang in der Fremde, kehrte zurück und sprach: „Wie habt ihr ohne mich leben können?“

„So wie die Blinden“, sprachen sie, „die nicht sehen und doch mit dem Odem atmen, mit der Rede reden, mit dem Ohre hören, mit dem Geist denken.“

Da fuhr das Auge wieder hinein.

Da zog das Ohr aus, weilte ein Jahr lang in der Fremde, kehrte zurück und sprach:
„Wie habt ihr ohne mich leben können?“

„So wie die Tauben“, sprachen sie, „die nicht hören und doch mit dem Odem atmen, mit der Rede reden, mit dem Auge sehen, mit dem Geist denken.“

Da fuhr das Ohr wieder hinein.

Da zog der Geist aus, weilte ein Jahr lang in der Fremde, kehrte zurück und sprach: „Wie habt ihr ohne mich leben können?“

„So wie die Narren“, sprachen sie, „die ohne Verstand sind und doch mit dem Odem atmen, mit der Rede reden, mit dem Auge sehen, mit dem Ohre hören.“

Da fuhr der Geist wieder hinein.

Da wollte der Odem ausziehen, aber gleichwie ein edles Roß, wenn es sich losreißt,
die Pflöcke der Fußfesseln mit herausreißt,
also riß er die andern Lebenshauche mit heraus.

Da kamen sie alle zu ihm und sprachen:
„Ehrwürdiger, sei du es! Du hast den Vorrang über uns, nur ziehe nicht aus!“

Da sprach zu ihm die Rede
„Womit ich die reichste bin, damit bist du der reichste.“

Da sprach zu ihm das Auge:
„Womit ich der Standort bin, damit bist du der Standort.“

Da sprach zu ihm das Ohr:
„Womit ich die Erlangung bin, damit bist du die Erlangung.“

Da sprach zu ihm der Geist:
„Womit ich der Stützpunkt bin, damit bist du der Stützpunkt.“

Darum nennt man sie nicht die Reden, die Augen, die Ohren, die Verstande,
sondern die Lebenshauche nennt man sie, denn der Odem ist sie alle.

Chandogya Upanishade V.1.6 – 15  12koerbe.de/hanumans/cha-5(punkt)htm