Erkenntnis

Yoga Vasishtha ist ein philosophisches Werk des Advaita Vedantas mit rund 30.000 Versen. Es wird Valmiki, dem Verfasser des Ramayanas zugeschrieben und ist ein Lehrgespräch zwischen Vasishtha, einem Weisen am Hofe Dasharathas, und Rama, dem Sohn Dasharathas und Helden des Ramayanas.

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Shukra, des Weisen Bhrigus Sohn, war weise und strahlend wie der Mond. Er wich seinem Vater niemals von der Seite, er war in Laya (neutral), einem Zustand zwischen Cit (reines, von Begehren freies Bewusstsein) und Achit (niederes, von Begehren behaftetes Bewusstsein).

Eines Tages schaute er, der sich nie von seinem Vater entfernte, in den Akasha (Raum) und erkannte eine Nymphe, die auf ihn zukam. Ihr Gang war verführerisch, ihre Locken waren mit Blüten geschmückt, sie strahlte einen betörenden Duft aus.

Shukra schloss seine Augen und schwelgte in den unendlichen Weiten geistiger Vorstellungen, angetrieben von Wunschdenken (Sankalpa). Sie weilte im Reich der Götter, er dachte darüber nach, in dieses Reich einzutreten … und schon sah er es vor sich, Indra, der König der Götter, saß auf seinem herrlichen Thron, strahlend, von Himmlischen umringt, ihm huldigend.

Die üblichen Höflichkeiten des Grußes wurden ausgetauscht zwischen Indra und Shukra, und da sah er sie aus der Gruppe der Nymphen heraustreten, sie, die Schönheit von vorhin. Shukras Augen glühten, ihre Augen glühten zurück, ihre Herzen wurden eins.

Shukra, der durch sein Wunschdenken (Sankalpa) alles herstellen konnte, wünschte, dass Dunkelheit den Raum einhülle. Alles floh vor Schreck und das Paar war allein im Dunklen. Shukra umarmte die Nyphe unter einem Kalpa Baum (wunscherfüllender Baum). So verbrachten sie acht Weltzeitalter ohne Störung.

Doch alles hat ein Ende, Shukra und die Nymphe fielen auf die Erde. Hier nun vergaß er vollkommen seine unverdorbene Wirklichkeit. Bei seinem Herabstieg aus dem Reich Indras vermischte sich Shukras Jiva (die verkörperte Seele) mit den Strahlen des Vollmondes und wurde zu Tau. Der Tau fiel auf Reisfelder und wurde Reis. Dieser Reis wurde von einem Brahmanen gegessen und zu Sperma. Sukra, der nun das Sperma in dem Brahmanen war, kam als sein Sohn aus dem Leib seiner Frau.

Die Nymphe war als Reh auf die Erde gekommen, zusammen hatten sie einen Sohn. Shukra wurde an die materielle Welt und an seinem Sohn gefesselt.

Er durchlief zahllose Geburten und Tode, angetrieben durch seine illusionistischen Samskaras (Eindrücke aus letzten Geburten) und Vasanas (Denkbahnen). Zuletzt inkarnierte er im Körper der Frau eines Tapasvins (Asket) und wurde als dessen Sohn, Vasudeva, an den Ufern der Ganga geboren.

Kommen wir zurück zu dem Körper Shukras, in dem er nie von der Seite des Vaters gewichen war.

Sonne und Wind hatten ihn zu einem Skelett werden lassen. Er war von keinem Tier aufgegessen worden, denn Bhrigu bewachte ihn ja.

Nach vielen Jahren in Nirvikalpa Samadhi (der höchste transzendente Bewusstseinszustand), öffnete Bhrigu seine Augen und sah die leiblichen Überreste seines Sohnes. Bhrigus Geist war untröstlich. Ohne die Geschehnisse zu hinterfragen war er sicher, sein Sohn war tot. Sein Zorn richtete sich gegen Yama, den Herrn des Todes, er verfluchte ihn.

So erschien Yama, in einem Körper, vor Bhrigu. Er hatte sechs Köpfe, drei Armpaare, Schwert, Schlinge. Umgeben war er von seinem Gefolge.

Der alles Verschlingende erklärte Bhrigu: ‚Wir befolgen nur die Gesetze Ishvaras (der Allgewaltige). Ich preise dich für dein vollkommenes Tapas. Vergäude es nicht durch deinen Zorn. Selbst das Feuer bei der Aufösung der Welten wird mich nicht berühren und schon gar nicht deine verfluchenden Worte.

Viele Shivas und Vishnus fielen mir zu Füßen, als sie sich in die Schlinge des Samsaras (Kreislauf von Geburt und Tod) verstrickten. Keiner entkommt mir. Alle kommen sie in meine Fänge. Es ist das ewige Gesetz Ishvaras, nicht meines, aufgrund dessen ich für die Vernichtung allen Lebens sorge.

Die in Jnana (Weisheit, Erkenntnis) Weilenden, verlieren die Unterscheidung zwischen Handlung, Handelndem und Handeln. Für die in Ajnana (das Gegenteil von Jnana) Weilenden bleibt diese Unterscheidung erhalten.

Was gibt dir das Recht, mich im Zorn zu verfluchen, ohne vorher die Situation zu hinterfragen, in die dein Sohn durch sein eigenes Sankalpa gekommen war? Höre was ich sage. Der Atman ist Geist und es ist der Geist der handelt, nicht der Körper. Während seines Lebens im Körper wird er Jiva genannt. Durch Erlangen von Wissen wird er Buddhi (höchste Intuition) genannt. Er wird Ahamkara (Ego) genannt, wenn er durch Ich und Mein verblendet ist. Geist allein ist er, wenn er Viveka (Unterscheidungskraft) erlangt hat.

Während du in Nirvikalpa Samadhi dich befandest legte dein Sohn seine fleischliche Hülle ab aufgrund übermäßigen Wünschens. Sein Geist wurde in den Akasha gezogen durch eine Nymphe, ihr Name war Visvaci. Dann inkarnierte er auf Erden als Sohn eines Brahmanen. Er durchlebte Leben als König von Kosala, als Jäger im Wald, als Schwan an der Ganga, als König von Paundra, als Guru in Salva, als König der Vidyadharas, als Sohn eines Weisen, als Regent von Sauvira, als Guru von Shiva Anhängern, als Bambus, als Hirsch im Wald, als Schlange. So ging er, mit unreinem Geist und unter dem Einfluss der Vasanas, durch verschiedene Leiber, durch hohe und niedere Geburten und wurde zuletzt einem Weisen geboren, der an den Ufern der Ganga lebte.

In dieser Geburt bezwang er die Sinne, er hieß Vasudeva und begab sich über 800 Jahre lang in Tapas.

Wenn du die illusorischen Geburten deines Sohnes erkennen willst, die wie ein Traumwirbel über den Geist deines Sohnes schwebten dann kannst du das durch deine mystische Sicht tun.‘

So sprach Yama und ließ Bhrigu all die Geburten seines Sohnes in Licht des höchsten Geistes erkennen.

Als Bhrigu wieder aus der Vision erwachte bat er Yama um Verzeihung: ‚Oh allwissender Kala (die Zeit – Tod und Zeit sind identisch), du bist der höchste Vollzieher des Gesetzes.‘

Yama nahm Bhrigu bei der Hand und führte ihn in eine Höhle am Mandara Berg, wo die Ganga fließt. Da sah Bhrigu seinen Sohn, Vasudeva. So wollte es Yama. Yama wollte, dass Vasudeva aus seinem Samadhi kam und die beiden grüßten sich.

Die drei Seelen setzten sich auf einen Stein.

Der Sohn sprach: ‚Durch eure Gegenwart habe ich die Täuschung (Maya) überwunden.‘

Bhrigu segnete ihn: ‚Möge Jnana in dir keimen und Ajnana dich verlassen.‘

Vasudeva schloss seine Augen, erlebte in einer Vision all seine Geburten und wurde von weiteren Geburten befreit.

Vasudeva sprach: ‚Ich habe die Illusion der Prakriti (die mit den Sinnen erfahrbare Welt) durchschaut. Ich bin von weiteren Geburten befreit. Ich habe Jnana erlangt. Lasst uns zum Mandara Berg gehen und meinen Körper betrachten, der da liegt.‘

Vasudeva betrachtete seinen früheren Körper, in dem er der Sohn Bhrigus war.

Yama sprach: ‚Nun ziehe in diesen Körper ein, wie ein König in seine Stadt einzieht.‘ Dann verließ Yama sie.

Shukra legte Vasudeva ab und ging in seinen früheren Körper ein. Bhrigu besprenkelte den Körper mit geweihtem Wasser und segnete ihn mit Mantren. Prana (der Lebensodem) zog in ihn ein. Shukra erhob sich und dankte seinem Vater.

 

Die Geschichte ist entnommen dem Laghu Yoga Vasishtha von K. Narayanaswami Aiyer.

Aus dem Englischen mit freundlicher Genehmigung von Prof. C. A. Shinde,
The Adyar Library And Research Centre.