Guru – Schüler

Guru

Heute kann sich jeder Guru nennen. Gurus schießen in Indien und im Westen wie Pilze aus dem Boden. Es geht allein um Kommerz. Im Zuge dieser Entwicklung verlor das Wort Guru seine ursprüngliche Bedeutung und mehr noch, es kam in Verruf.

Der Guru ist der spirituelle Lehrer, das Gegenstück zum weltlichen Lehrer. Oder, was der Arzt für den Körper, ist der Guru für den Geist.

In Vedischer Zeit kam der Schüler mit Brennholz in Händen zum Guru, damit dieser sein Nichtwissen (in Bezug auf metaphysisches Wissen) verbrenne. Der Guru prüfte den Schüler intensiv bevor er ihn annahm. Die Guru-Schüler Beziehung war enger als die Eltern-Kind-Beziehung. Die Eltern geben den Körper, der Guru befreit den Geist aud demselben. Der Körper gilt als ein ‚Gefängnis‘ des Geistes.

Der Guru vermittelt das Wissen der metaphysischen Schriften, führt den Schüler zu geistiger Klarheit, zu höchster Erkenntnis, hin zu dem was wir, heute verballhornt, Erleuchtung nennen, ohne zu wissen und wissen zu wollen was es ist oder sein könnte.

Der Guru muss die Schriften, die Veden, verinnerlicht haben (Shrotriya) und das was darin geschrieben steht im täglichen Leben leben – in Handlung, Sprache und Gedanken. Er hat Vorbild Funktion. Sein Erscheinen muss Würde und Weisheit ausstrahlen.

Der Guru muss den noch nicht entwickelten und den hoch entwickelten Geist erkennen und den Schüler dementsprechend führen.

Der Guru muss selbst eine verwirklichte Seele sein, das Numinose erfahren haben, erleuchtet sein, vom Numinosen durchdrungen. Wie anders könnte er den Schüler hin zum Numinosen (zur Erleuchtung) führen?

Der Guru muss von makellosem Charakter, frei von Egozentrik und Begehren sein. Er besitzt Tugenden wie Mitgefühl, Liebe, Großmut, Selbstlosigkeit. Er sieht das höchste Potential in jedem Schüler, wissend, dass es bei vielen durch den Schleier des Nichtwissens verdeckt ist. Diesen Schleier zu lüften ist seine Aufgabe.

Der Guru muss das Weltliche überwunden, seine Sinne unter Kontrolle haben. Er ruht in sich. Privilegien, Ansehen, Ruhm sind nicht sein Ziel. Sein Honorar erhält er allein auf Spendenbasis (Dana).

Die Überlieferung sagt – wenn der Schüler bereit ist, dann findet ihn der Guru.

Schüler

Um ein Schüler, ein Aspirant, auf dem spirituellen Weg zu werden bedarf es großer Vorbereitung.

Der Schüler muss das Verlangen nach Weltlichem aufgeben und sich nach dem Transzendenten sehnen. Sich an vergänglichen Reichtümern und Luxus zu erfreuen, über den Zustand der Welt nachzudenken oder zu versuchen, die sozialen Bedingungen zu verbessern, zeugt von Nichtwissen. Die Welt ist nur auf die Sinne bezogen. Glück und Freude, die daraus entstehen, sind unbeständig und vorübergehend. Daher versucht der Schüler, dies aufzugeben und die ewige letztendliche Wahrheit zu erkennen, eins zu werden mit dem Numinosen, aufzugehen in Glückseligkeit, Ananda.

Wir werden von unseren Sinnen gesteuert. Die Augen sehen etwas Herrliches, die Ohren hören etwas Klangvolles, die Nase rieht etwas Duftendes, die Zunge schmeckt etwas Feines, die Haut spürt etwas Angenehmes. Angenehm oder unangenehm, lustvoll oder schmerzhaft, gewollt oder ungewollt reagieren wir auf diese Sinneswahrnehmungen. Wir können den Reizen nicht entkommen. Auch wenn wir unsere Augen schließen, zaubert das innere Organ die Vorstellungswelt herauf.

Der Schüler muss die Sinne unter Kontrolle bringen durch stetige Übung, Abhyasa, durch rechtes Verhalten, Sadacara, und durch Unterscheidungskraft, Viveka. Yoga bezeichnet dies als Pratyahara, das Zurückziehen der Sinne. Es ist die vollkommene Konzentration des Geistes. Ein Beispiel – wenn man vollkommen in das Lesen eines Buches vertieft ist, nimmt man nichts um sich herum wahr. Pratyahara ist das sich auf ‚etwas‘ zu konzentrieren und die Sinnesreize nicht mehr wahrzunehmen. Man ist nicht mehr der Sklave seines Geistes, sondern macht ihn sich untertan. Wenn wir nicht riechen wollen riechen wir nicht. Dies erfordert große Kraft und Ausdauer, Titiksha, denn der Geist rebelliert.

Der Schüler muss den Worten des Gurus Glauben schenken muss. Er muss überzeugt sein, dass der Lehrer, den er gewählt hat, ihn von der Dunkelheit zum Licht führen wird, vom Nichtwissen zum Wissen und von der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit.

Der Guru weiß, was der Schüler braucht, er kennt Fähigkeiten und Eignung. Anfänglich mögen die Lehren daher den Erwartungen und Vorlieben des Schülers widersprechen, aber er muss den Anweisungen des Gurus folgen und durchhalten. Wenn der Guru ihn bittet, von einem Hügel zu springen, muss der Schüler zuerst springen und dann die Rationalität eines solchen Befehls hinterfragen.

Der Schüler muss ein starkes Verlangen haben, Mumukshu, den spirituellen Weg zu beschreiten. Ansonsten binden andere Wünsche den Geist. Doch wird Begehren nie durch Genuss gesättigt, Genuss dient nur als Brennstoff für das Feuer. Mehr noch, der Wunsch wird durch Begehren erhöht. Unsere natürliche Verfassung verhindert, dass wir diese Tatsache verstehen. Nur der Guru kann uns aus diesem Kreislauf der Wünsche und aus dem Kreislauf von Geburt und Tod, Samsara, führen.

Diese Bedingungen erscheinen zu fantastisch. Man denkt sicherlich: ‚Das ist zu viel!‘ Doch wenn der Schüler sagt: ‚Das ist das Ideal, aber ich bin noch nicht bereit, ihm zu folgen‘, denn ist er schon auf dem richtigen Weg.

 

Verfasst von Dr. C. S. Shah – übersetzt mit freundlicher Genehmigung von boloji(punkt)com