Der indische Tanz

Der Tanz ist in Indien mythologischen Ursprungs. Die Welt war versunken in Gier und Leid. Die Menschen suchten Brahma auf und baten, Er möge diesen Zustand beenden.

Brahma schuf den Natya Veda, das Wissen um den Tanz, indem Er aus den vier Veden je einen Teil entnahm – die Sprache dem Rig Veda, den Ausdruck dem Yajur Veda, die Musik dem Sama Veda, die Ästhetik dem Atharva Veda.

Diesen Natya Veda übergab Er dem Weisen Bharata, der ein Drama verfasste und Shiva aufsuchte mit der Bitte, die Tanzbewegungen dazu zu schaffen.

So war das erste Tanzdrama entstanden. Bharatas Natya Shastra ist die älteste Schrift der Tanz- und Schauspielkunst und in Indien Grundlage für klassischen Tanz und klassische Musik.

Shiva ist der Herr des Tanzes. Er erschuf die Welt mittels Seines Ananda Tandavas, dem Tanz der Glückseligkeit. Shiva tanzt in den Wellen des Ozeans, in den Vulkanen, im Erdbeben, im Kreisen der Planeten, im Blitz und im Donner. Alles was sich im Kosmos bewegt ist Sein Tanz.

Der klassische indische Tanz ist an die zweitausend Jahre alt. Zeichnungen und Inschriften in Mohenjodaro weisen darauf hin. Die Skulpturen in indischen Tempeln, vom hohen Norden bis in den tiefen Süden, zeigen lebendig anmutende Tanzposen.

Die unterschiedlichsten Tanzformen entwickelten sich in den verschiedenen Landesteilen, gingen ein in Familientraditionen. Getanzt wurde in den Tempeln, als die höchste Form der Verehrung Gottes. Junge Tänzerinnen tanzten als Dienerinnen Gottes, Devadasis, für einen erwählten Gott in einem Ihm geweihten Tempel.

Die Briten, den heiligen Hintergrund nicht verstehend, verbannten den Tempeltanz und die Tradition starb aus. Heute ist nur noch ein Schatten dessen übrig was der Tempeltanz einst war.

In den letzten fünfzig Jahren hat man versucht, die alte Tradition wieder aufleben zu lassen, verbliebene Tänze weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Sie sind somit alt und dennoch zeitgenössisch. Sie werden nicht mehr im traditionellen Umfeld aufgeführt, versuchen jedoch, die Vergangenheit nachzubilden. Neue Themen fließen in die alten Stile ein oder die alten Themen werden in neuen Stilen gezeigt.

Kathak in Nordindien, Manipuri in Nordostindien, Odissi in Orissa, Kuchipudi in Andhra Pradesh, Bharatanatyam in Tamil Nadu sowie Kathakali und Mohiniattam aus Kerala sind die derzeitigen Tanzstile Indiens, deren Techniken sich noch auf das Natya Shastra zurückverfolgen lassen.

Sieht man die Schönheit der unterschiedlichen Stile, kann man erahnen, wie imposant und glanzvoll es in vergangener Zeit gewesen sein muss.

Leider dient der Tanz heute fast nur noch der Unterhaltung. Eine reine Wiederherstellung der alten Kunst auf der physischen Ebene ist nicht genug. Abnehmendes Interesse der Menschen, die Konkurrenz aus den Medien lassen die einstige Heiligkeit des Tanzes vergessen.

Bharata notiert in seinem Werk: Natya gibt Pflicht dem Pflichtvergessenen, Liebe dem Verlangenden, Zügel dem Ungezügelten, Selbstbeherrschung dem Undisziplinierten, Mut den Zaudernden, Begeisterung dem Tapferen, Einsicht dem Verblendeten, Weisheit dem Gelehrten. Natya ist Abwechslung für Könige, Trost für Leidende, Erfüllung für Wünschende, Ruhe für Gehetzte.

Tanz ist heilige Bewegung der Glieder mit Gefühlen der Hingabe. Die Gesänge sind andächtige Liebeslieder, die Tänzerin ist die Liebende, Gott der Geliebte. Die verkörperte Seele sehnt sich nach der Einheit mit der höchsten Seele, ihrem Ursprung. So erhebt sich nicht nur die Tänzerin auf eine höhere Bewusstseinsebene, sie nimmt auch die Zuschauer mit.

Gerade heute, wieder in einer Zeit, in der Sitte verfällt und Gewalt zunimmt, ist es die Pflicht der Tänzerin, durch ihren Tanz und ihre tiefe Hingabe, die jeden Darsteller des klassischen Tanzstils begleitet, eine Atmosphäre des Friedens zu schaffen. Schließlich schuf Brahma diese audiovisuelle Kunstform, um den moralischen Verfall in der Welt zum Stillstand zu bringen.

Von Shrilata Suresh – übersetzt mit freundlicher Genehmigung von boloji(punkt)com